Die tschechoslowakische Armee kurz nach der Besetzung des Hultschiner Ländchens am 4. Februar 1920, Foto: Muzeum Hlučínska

2020 war ein turbulentes Jahr! Wir werfen einen Blick zurück und präsentieren Ihnen noch einmal unsere in diesem Jahr meistgelesenen Beiträge – größtenteils abseits von Meldungen über Corona-Maßnahmen, Lockdowns oder die neusten Infektionszahlen. Auf Platz 8: 100 Jahre Hultschiner Ländchen. In vielerlei Hinsicht handelt es sich um eine außergewöhnliche Region, die am 4. Februar 2020 ihren 100. Geburtstag feierte.

Die Geburtsstunde des Hultschiner Ländchens schlug am 4. Februar 1920, als es von der tschechoslowakischen Armee besetzt wurde. Nie vorher hatte es diese Region unter diesem Namen auf der Landkarte gegeben und die hiesigen Einwohner hatten dieses Gebiet auch nie so genannt. Das Ende des Ersten Weltkriegs brachte einige tiefgreifenden Veränderungen mit sich. Es änderten sich Grenzverläufe und Staaten. Einige Länder wie Österreich-Ungarn zerfielen ganz. Aus ihren Teilen entstanden neue Staaten, die ihre Ambitionen, Gebiet von den Besiegten zu gewinnen, nicht verbargen. Das war auch bei der jungen Tschechoslowakei so, deren Staatsgebiet von vornherein nicht klar abgegrenzt war und sich noch einige Jahre nach der Ausrufung der Republik änderte. In politischen Verhandlungen kamen nüchterne und bizarre Vorschläge zur Sprache. Die Hauptrolle spielten strategische und wirtschaftliche Interessen, weshalb kaum überrascht, dass sich die Aufmerksamkeit vor allem auf Oberschlesien richtete. Es war damals eine der industriell entwickeltsten Regionen Europas mit reichen Vorkommen an fossilen Bodenschätzen, die im Mittelalter einmal Teil des Königreiches Böhmen war. Aber auch Polen hatte Interesse am industriellen Schlesien. Auch Polen konnte mit der historischen Zugehörigkeit des Gebietes zum eigenen Staat argumentieren. Vor allem aber sprach die Bevölkerung polnisch. Doch auch Deutschland machte keine Anstalten, das Gebiet, über das es schon seit dem 18. Jahrhundert herrschte, freiwillig abzugeben.

Gegensätzliche Gebietsansprüche in Oberschlesien

In dieser Situation forderten die Repräsentanten der noch jungen Tschechoslowakei den südwestlichen Teil Oberschlesiens. Dabei handelte es sich um das Gebiet um die Städte Ziegenhals (Głuchołazy), Leobschütz (Głubczyce), Ratibor (Racibórz) und Rybnik. Die Gebietsansprüche kollidierten allerdings mit der ethnischen Zusammensetzung der Bevölkerung, die außerordentlich kompliziert war. Auf der einen Seite wurde nach dem Ersten Weltkrieg mit dem Selbstbestimmungsrecht der Völker argumentiert, wodurch mehrere Staaten entstanden. Auf der anderen Seite wurde dieses Recht einigen Minderheiten verweigert. Im Bemühen die Situation gerecht zu lösen entschieden sich die Siegermächte für eine Volksabstimmung in Oberschlesien über den Verbleib innerhalb Deutschlands oder den Anschluss an Polen. Um auch die tschechoslowakischen Ansprüche wenigstens teilweise zu befriedigen, sollte die Tschechoslowakei ebenfalls einen kleinen Teil von Oberschlesien erhalten, und zwar ganz ohne Volksabstimmung. Leider ist nichts Genaueres bekannt, wie es zu dieser Entscheidung kam. Wir können nur feststellen, dass der tschechoslowakische Gebietsgewinn selbst im Vergleich zu minimalistischen Varianten der Gebietsforderungen noch klein war.

Die Gestalt des angeschlossenen Gebietes ergab sich nicht automatisch. Von Deutschland wurde kein historisch gewachsenes Ganzes abgetrennt, sondern der südliche Teil des Landkreises Ratibor mit 36 Gemeinden und rund 45.000 Einwohnern. Dass das Gebiet künstlich geschaffen wurde zeigte sich übrigens darin, dass die neue Grenze in Paris mit dem Lineal gezogen wurde. Was unterhalb des Striches landete, gehörte nun zur Tschechoslowakei, in den Gemeinden oberhalb des Striches dagegen wurde die Volksabstimmung abgehalten. Die Entscheidung wurde ein Teil des Vertrages von Versailles, der die Eingliederung des Gebietes in die Tschechoslowakei in seinem 83. Artikel rechtlich regelte.

Einst Grenzfluss, nach 1920 mitten im Land - die Oppa bei Hoschialkowitz. Foto: Muzeum Hlučínska

Einst Grenzfluss, nach 1920 mitten im Land – die Oppa bei Hoschialkowitz. Foto: Muzeum Hlučínska

Der eigentliche Anschluss erfolgte bereits wie erwähnt am 4. Februar 1920. Die Staatsgrenze, die über mehrere Generationen durch das Flussbett der Oppa führte, verschob sich nun nach Norden. Über den genauen Grenzverlauf wurde aber weiter verhandelt, denn der Pariser Strich teilte einige Gemeinden in der Mitte entzwei, was die ganze Situation nur komplizierter machte. Erst 1923 kam der Prozess der Ausbildung des Hultschiner Ländchens zu seinem Abschluss, als die umstrittenen Gemeinden Sandau (Píšť) und Haatsch (Hať) ganz der Tschechoslowakei zugeschlagen wurden, während die zu Schillersdorf (Šilheřovice) gehörende Kolonie Rakowiec an Deutschland zurückgegeben wurde.

Sprache und nationale Zugehörigkeit

Eine entscheidende Rolle bei der Beurteilung, ob die tschechoslowakischen Ansprüche gerechtfertigt waren, spielte die Sprache der Bevölkerung. In der komplizierten Situation unklarer Grenzverläufe und schwieriger Beziehungen stellte dies das einzige objektiv zu beurteilende Kriterium dar. Außerdem sollte nach damaliger Meinung gerade die Sprache die Zugehörigkeit zu einem Volk bestimmen. Was kümmerte es, dass die Dialekte der Randgebiete meilenweit von der offiziellen Schriftsprache entfernt waren. Was kümmerte es, dass das Volk für die Einwohner von Randgebieten eine völlig unverständliche Kategorie darstellte. Die Gesellschaft hatte ein kompromissloser Nationalismus erfasst. Der Einzelne musste in der damaligen Vorstellung Teil des Volkes sein, eine andere Möglichkeit existierte damals nicht. Dabei gehörte die Nation als Kategorie erst seit relativ kurzem zur politischen Szene. In älteren Zeiten gab es so etwas gar nicht. Die Entstehung der Völker ermöglichte erst die rasante Modernisierung: die Entwicklung der Industrie, des Schulwesens, der Bildung, die Zentralisierung der Staatsgewalt und des Rechts, die Entstehung des Bürgertums und der Niedergang der Religion. Auf diesen Pfeilern unter Zutun der großen Geschichtserzählung und der Schriftsprache, die früher ebenfalls nicht existierte, entstanden im 19. Jahrhundert die modernen mitteleuropäischen Völker. Gegenüber den zentralen Gebieten zeigte sich dieser Trend in den Grenzregionen mit einiger Verspätung. Nicht einfacher wurde es, da gerade in diesen Grenzregionen mehrere nationale Bewegungen und Ideen aufeinandertrafen. So war es auch in Schlesien.

Kundgebung gegen die Eingliederung, Foto: Muzeum Hlučínska

Kundgebung gegen die Eingliederung, Foto: Muzeum Hlučínska

Damit erklärt sich, warum die Bevölkerung des neu angegliederten Hultschiner Ländchens die tschechoslowakische Armee nicht Willkommen hieß und den Anschluss ablehnte. Über Generationen lebten sie erst in Preußen und später in Deutschland. Mit den tschechischen Ländern verband sie außer der kirchlichen Zugehörigkeit nichts. Auch die tschechoslowakischen Beamten und Lehrer erlebten einen Schock, als sie mit eigener Haut den lauen Empfang und einige kulturelle Besonderheiten erfuhren. In der damaligen Zeit war schlicht nicht vorstellbar, dass jemand, der Tschechisch spricht, keine Tscheche ist.

Anschluss kurz vor Mittag

Die tschechoslowakische Armee überschritt die damalige Grenze an drei Stellen, bei Klein Hoschütz (Malé Hoštice), Freiheitsau (Háj) und Eiglau (Děhylov). Kurz vor Mittag ritt ein Schwadron der Kavallerie, begleitet von Infanterie und Musik nach Hultschin ein. Es folgten acht Automobile mit bedeutenden Vertretern der politischen Verwaltung, angeführt vom Landespräsidenten Josef Šrámek. Die Hultschiner Volksvertreter kamen ihnen entgegen mit entblößten Köpfen und Bürgermeister Johan Lindel erklärte zur Begrüßung, dass die Bürger loyal ihrer Pflichten gegenüber dem tschechoslowakischen Staate erfüllen wollen. Josef Šrámek antwortete ihm auf Tschechisch und Deutsch, worauf sich die anwesenden Politiker zum Rathaus begaben, wo der Akt der Übernahme fortgesetzt wurde. Der Hultschiner Dekan Pater Hugo Stanke feierte darauf die heilige Messe, was ihm von den deutschen Nationalisten für den Rest des Lebens vorgehalten wurde.

Ein Hultschiner Ländchen vor 1920 ist Unsinn

Gewöhnlich heißt es, dass das Hultschiner Ländchen 1742 von Maria Theresia verloren wurde. Das erweckt den Eindruck, dass der Verlust des Hultschiner Ländchens das wichtigste Ergebnis des österreichischen Erbfolgekrieges war. In Wirklichkeit verlor die böhmische Königin damals fast ganz Schlesien. Ein Hultschiner Ländchen innerhalb Schlesiens gab es damals zudem gar nicht. Die Region ist erst die Frucht der Neuordnung Europas nach dem Ersten Weltkrieg. Wenn es damals nicht an die Tschechoslowakei gefallen wäre, wer weiß, ob wir uns heute überhaupt an die Schlesischen Kriege erinnern würden. Diese Ereignisse würden wahrscheinlich niemanden interessieren, genauso wie niemanden der Verlust der Lausitz interessiert. Deshalb ist der entscheidende Augenblick für die Geschichte des Gebietes seine Entstehung im Jahr 1920.

Der Zählkommissar bestimmt die Nationalität

Das neu gewonnene Gebiet in der Zeit eines angespannten Nationalismus weckte verschiedene Erwartungen, eine ruhige Entwicklung war ihm jedoch nicht vergönnt. Während die tschechische Seite mit allen Mitteln versuchte, das Ländchen zu tschechisieren, bemühten sich die deutschen Gegenspieler um das genaue Gegenteil. Um ihre Bemühungen zu legitimieren, beriefen sich beide Seiten auf die historische Herkunft der hiesigen Einwohner. Während die einen sie für einen vergessenen, zurückgeblieben Zweig des tschechischen Volkes hielten, sahen die anderen in ihnen Nachkommen altgermanischer Stämme.

Der Konflikt der verfeindeten Nationalismen zeigte sich am schärfsten beim Zusammentreffen von Bürger und staatlicher Gewalt. Der tschechoslowakische Staat befürchtete zu Recht, dass die Einwohner des Hultschiner Ländchens die Volkszählung zur Deklaration ihrer deutschen Zugehörigkeit nutzen würden. Er unternahm deshalb verschiedene Maßnahmen, um die freie Wahl der Bevölkerung einzuschränken. Die Nationalität durfte deshalb nur der Zählkommissar auf Grundlage objektiver Kriterien beurteilen. Damit war vor allem die Sprache gemeint. Wenn jemand auf seiner deutschen Herkunft bestand, aber nicht die Sprachprüfung schaffte, widerfuhr ihm repressive Verfolgung. Auch im Bildungswesen verhielt sich die demokratische Republik undemokratisch, indem sie in einigen Orten des Hultschiner Ländchens ablehnte deutsche Minderheitenschulen einzurichten, obwohl der Anspruch vom Gesetz her bestand. Die Eltern schickten ihre Kinder daraufhin auf deutsche Schulen in Troppau oder zahlten Privatlehrer. Auch das versuchten die tschechoslowakischen Beamten auf alle mögliche Weise zu verhindern. Die Folge war, dass die Bildung einiger Kinder nicht den Anforderungen entsprach. Die Prüfungen wurden jedoch immer bestanden, weil das der politische Kampf erforderte. Das Bemühen des tschechoslowakischen Staates, in den Einwohnern des Hultschiner Ländchens ihre Zugehörigkeit zum Tschechischen zu stärken, brachte am Ende des genaue Gegenteil hervor.

Von Hitler geblendet

In den 1930er Jahren wurde immer mehr eine Spaltung in der Gesellschaft sichtbar. Jeder Einwohner musste sich symbolisch entscheiden, wohin er gehörte. Der Erhalt oder Verlust einer Arbeitsstelle wurde von der Loyalität zur einen oder anderen Seite abhängig gemacht. Weil die Einwohner des Hultschiner Ländchens sowohl in der Tschechoslowakei als auch in Deutschland arbeiteten, hatten sie genug Gelegenheit, sich mit dem betäubenden Gift des Nationalismus zu infizieren. Das Verblassen tschechischer Positionen und die steigenden Präferenzen deutscher Parteien zeigten die Wahlergebnisse. 1935 fuhr die Sudetendeutsche Partei Konrad Henleins einen überwältigenden Sieg ein und es kamen separatistische Tendenzen auf. 1938 steht bereits im Zeichen bewaffneter Zwischenfälle und terroristischer Anschläge, während die Tschechoslowakei ihre Bereitschaft, sich zu verteidigen, zeigt. Das Münchner Abkommen entscheidet über die Abtretung des Grenzgebietes und so kehrt auch das Hultschiner Ländchen nach Deutschland zurück. Die Einwohner nehmen diese Entscheidung mit Begeisterung auf. Den Krieg erleben die Hultschiner als gewöhnliche Deutsche. Einige sehen sich zwar nicht als Deutsche, die Staatsmacht nimmt sie aber als solche wahr. Die männliche Bevölkerung kämpft in der Wehrmacht, was nicht ohne Todesopfer abgeht. Spätestens jetzt wird den Menschen klar, dass die Zugehörigkeit zu Deutschland nicht nur mit wirtschaftlichem Wohlstand verbunden ist. Nur eine kleine Minderheit wagt den Widerstand gegen das nationalsozialistische Regime. Die Erfahrung des Krieges wird am Ende zur Erfahrung der nahenden Front.

Hultschiner Ländchen Regelmäßiger Besuch aus Deutschland Museum Hultschin web

Regelmäßiger Besuch aus Deutschland, Foto: Muzeum Hlučínska

Nach dem Krieg

Nach dem Krieg gehört das Hultschiner Ländchen wieder zur Tschechoslowakei. Es stellt sich aber die Frage, was mit seinen Bewohnern wird. Einige Parteien halten sie für Volksverräter und fordern ihre Vertreibung. Mit diesem Schritt hätte man aber das eigene Argument von 1920, es wären Tschechen, ad Absurdum geführt. Nach einer emotionalen Debatte fiel letztendlich die Entscheidung, dass die Bewohner des Hultschiner Ländchens bleiben dürfen. Vertrieben wurden in der Regel nur jene Personen, die bei der Volkszählung 1930 als Nationalität deutsch angegeben hatten. Die einst kritisierte „Zwangsvolkszählung“ half den Einwohnern des Hultschiner Ländchens nun paradoxerweise bei ihrer Rettung. Nach Deutschland siedelten sei es erzwungen oder freiwillig etwas über 3000 Personen über. Die weitere Entwicklung stand unter strenger Aufsicht der Staatsmacht und ohne störende Einflüsse anderer Ideologien als der marxistisch-leninistischen. Das kommunistische Regime schätzte an den Einwohnern des Hultschiner Ländchens vor allem ihren Fleiß. Ihre deutsche Vergangenheit wurde tabuisiert. Ihre Andersartigkeit wurde zielgerichtet durch den Staat unterdrückt oder oft auch von den Einwohnern selbst, um nicht aufzufallen.

Das Hultschiner Ländchen ist ein völlig anderes Grenzgebiet. Hier stehen keine Häuser leer, es gibt keine verschwundenden Orte. Im Gegenteil, die Region prosperiert und ihre Einwohner sind hier stark verwurzelt. Nach 100 Jahren, die keinesfalls einfach waren, scheint endlich Ruhe und Stabilität eingekehrt.

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