Tausende Flüchtlinge harrten im Spätsommer 1989 über Wochen in der Deutschen Botschaft Prag aus. Foto: Josef Ptáček

Die Besetzung der deutschen Botschaft in Prag 1989 durch DDR-Deutsche war der wohl wichtigste Meilenstein auf dem Weg zum Fall der Berliner Mauer. Die Ostdeutschen stimmten an der Moldau mit den Füßen ab, um in die Freiheit zu gelangen.

Wer mal Gelegenheit hat, das wohl schönste deutsche Botschaftsgebäude – das in der Moldaustadt Prag gelegene Palais Lobkowicz – zu besichtigen, der findet im Treppenhaus Zeugnisse von vor 30 Jahren. Ein immer wieder besonderer Hingucker: eine von Botschaftsbesetzern aus schwarzen, roten und goldenen Stoffresten zusammengenähte kleine Deutschland-Fahne. Kaum A4 groß, verkörpert sie einen sehr viel größeren Traum: den Traum von der Freiheit, die Sehnsucht, die DDR Honeckers unter allen Umständen in Richtung Bundesrepublik zu verlassen.

Prager Botschaft Flüchtlinge Parkverbot web Bildrechte Josef Ptacek

Vor dreißig Jahren sind die Umstände auf der Prager Kleinseite abenteuerlich. Mehrere tausend Menschen aus dem Osten haben die Botschaft in Wellen gestürmt, harren in fürchterlicher Enge bei nasskalter Witterung, die den wundervoll gepflegten Park des Palais in eine einzige Schlammwüste verwandelt, voller Zweifel und Hoffnung zugleich aus, um letztlich ihre Ausreise in den Westen zu erzwingen. Die Botschaftsmitarbeiter und Helfer des Roten Kreuzes leisten Übermenschliches, um die Kinder, Frauen und Männer zu versorgen. 35 Großraumzelte werden rangeschafft, vier Feldküchen, so genannte Gulaschkanonen, 3 000 Betten und Matratzen, fast 6 000 Schlafsäcke, 3 600 Wolldecken, 2 000 Trainingsanzüge, 1 200 Pullover, 2 500 Quadratmeter Holzpaletten aus einem Munitionsdepot der Bundeswehr, 20 000 Babywindeln, sogar 96 Kindernachttöpfe. Jeden Tag fahren Transporter ins oberpfälzische Weiden, um große Mengen Lebensmittel zu besorgen. 

Die tschechoslowakischen Milizen hindern anfangs die Menschen daran, die Zäune zu übersteigen. Doch die politische Führung Prags hält sich zunehmend aus der Causa raus. Für sie ist das, was sich in der Welschen-Gasse auf der malerischen Kleinseite abspielt, eine Angelegenheit der beiden deutschen Staaten. Das Husak-Regime will nicht die deutsch-deutsche Suppe auslöffeln und am Ende im Regen stehen. Honecker schickt mehrfach seinen Vertrauten, Rechtsanwalt Vogel, nach Prag, um die Besetzer von der Rückkehr in die DDR zu überzeugen. Sie könnten dort einen Ausreiseantrag stellen. Nur wenige vertrauen dieser Zusage.

Inzwischen hat am Rande der UN-Vollversammlung in New York fieberhafte politische Aktivität eingesetzt. Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher gelingt es, mit Hilfe des sowjetischen Außenministers Eduard Schewardnadse eine Lösung für das Flüchtlingsdrama zu erreichen, der auch die DDR zustimmen kann. Die Flüchtlinge, die mittlerweile zu zweit auch auf einer der Treppenstufen der Botschaft Schlaf zu finden versuchen, ahnen von all dem nichts.

Am Abend des 30. September fliegen Genscher und Kanzleramtsminister Rudolf Seiters von Bonn nach Prag. Um 18.58 Uhr betritt Genscher den Balkon des Palais, der heute seinen Namen trägt, und spricht zu den Landsleuten aus der DDR: „Wir sind zu Ihnen gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass heute Ihre Ausreise …“ Der Rest seines Satzes geht im unbeschreiblichen Jubel der ca. 4 000 Menschen im Park unter. Genscher nennt diese Stunden später, die „bewegendsten“ seines Lebens.

Prag Botschaft Gedenkplatte Genscher Neumann web

Mit Zügen fahren wenig später die Flüchtlinge von Prag aus in den Westen. Ostberlin besteht darauf, dass sie über DDR-Territorium fahren. Noch einmal befällt die Flüchtlinge Angst, sie könnten dort festgehalten werden. In Dresden und anderen Orten versuchen DDR-Bürger, die Züge zu entern, um mitfahren zu können. Die Behörden schlagen erbarmungslos zu. 

Der deutsche Botschafter Hermann Huber schaut nach zwei Stunden Schlaf „sein“ Haus und den Park an. „Über dem infernalischen Chaos lag eine gespenstische Stille“, notiert er. DRK-Helfer laden seine Frau und ihn ein, im Hof eine Gulaschsuppe zu essen. „Wir waren dankbar dafür. Sie hatten wohl unsere seelische Verfassung bemerkt.“ Gegen Mittag begehren aber schon wieder ein paar Hundert Menschen Einlass. Am Ende sind es an die 7 000 DDR-Bürger, die sich auf dem völlig überfüllten Areal drängten. 600 davon müssen im Heizungskeller nächtigen. Er ist der einzig verbliebene Raum.

Die Weltpresse nimmt von deren Ausreise kaum noch Kenntnis. Die DDR führt danach erneut die Visumpflicht für die Tschechoslowakei ein. Nur noch wenige Menschen kommen über die grüne Grenze. 

Was zurückbleibt in den Prager Gassen, sind Tausende Trabis und Wartburgs, die die DDR-Bürger stehen gelassen haben, mit offenen Türen und dem Schlüssel im Zündschloss. Die meisten finden schnell in Tschechen neue „Besitzer“. Aber vor allem waren die Botschaftsbesetzungen der letzte Anstoß für die Tschechen, ihre eigene „Samtene Revolution“ zu starten, die binnen nicht mal zweier Wochen zum Zusammenbruch des Systems bei ihnen führen sollte.

Noch mehr Fotos des Fotografen Josef Ptáček von den Ereignissen in der Botschaft 1989 und die Geschichte dazu finden Sie im neuen LandesEcho, das ab Montag am Kiosk zu kaufen ist.


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