Martin Kastler, Foto: Europäische Kommission

Martin Kastler steht mit einem Bein immer in Tschechien und damit in Europa, auch wenn er nach sechs Jahren in Prag nach Bayern zurückkehrt. Mit dem LE sprach er über Fehler und Versäumnisse in der Corona-Pandemie, warum Tschechien ein Politikwechsel bevorsteht und warum er sich nicht um die deutsch-tschechische Partnerschaft sorgt.

LE Herr Kastler, Ende März hat die Ackermann-Gemeinde, deren Bundesvorsitzender Sie sind, zum 29. Mal das Brünner Symposium „Dialog in der Mitte Europas“ veranstaltet. Diesmal erlebte das Symposium seine Online-Premiere. Eine der zentralen Fragen, um die kontrovers debattiert wurde, war, ob die Pandemie und ihr Umgang mit ihr die Europäische Union eher geeint hat oder eine Chance vertan wurde, mit einer erfolgreichen Pandemiebekämpfung Europa zu einen. Wie fällt Ihre Einschätzung aus?

Die Pandemie hat uns vor eine Situation gestellt, die wir so gar nicht mehr kannten. Katastrophenpläne und Staatsreserven auch im medizinischen Bereich gab es nicht mehr. Die letzten Pandemien dieser Art lagen lange zurück. Keiner hat mehr ernsthaft mit so etwas gerechnet. Insofern war die Pandemie ein großer Einschnitt auch für Europa.

Es gab zwei Varianten, darauf zu reagieren. Vereint als Europa oder jeder Nationalstaat für sich. Ich gebe zu, dass mir die erste Variante näher liegt. Was die praktischen Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Coronavirus betraf, zeigte sich jedoch, dass jeder Staat erst einmal auf seine Weise reagierte. Es wurden Grenzen geschlossen, was wir in Europa nicht mehr für möglich gehalten hatten und was auch irrsinnig war, weil das Virus vor den Grenzen nicht halt macht. Aber offenbar waren sich die Nationalstaaten als Manager der Krise in der Katastrophe selbst die nächsten. Doch mit der Zeit wurde sich mehr verständigt, übernahm die Europäische Union das Heft des Handelns.

Ich denke, dass Europa bei allen Versäumnissen gut reagiert hat. Wer dagegen aus meiner Sicht völlig versagt hat, ist die WHO. Erst die Fehleinschätzung zur Gefährlichkeit des Virus zu Beginn, widersprüchliche Aussagen zur Wirkung von Masken. Später dann tauchte die WHO ganz ab. Was ist von ihr heute noch zu hören? Die WHO wurde für solche Fälle geschaffen und müsste eigentlich in der ersten Reihe stehen.

LE Die Pandemie hat auch Defizite im deutsch-tschechischen Verhältnis offenbart. Wie konnte das geschehen und was ist zu tun, um diese Defizite zu beseitigen?

Vor einem Jahr hatte Tschechien einseitig die Grenzen geschlossen. Damals war das ein großer Schock, der dem Austausch auf beiden Seiten der Grenze leider stark geschadet hat. Später haben die Verantwortlichen beider Länder beteuert, die Grenze nicht mehr schließen zu wollen. Umso ärgerlicher ist, dass nun Deutschland die Grenze geschlossen hat, wir also den Fehler ein zweites Mal begehen. Sicher, es hat die ganze Zeit über Absprachen zwischen den Regierungen gegeben und ich gehe davon aus, dass das gute deutsch-tschechische Verhältnis dadurch nicht langfristig beschädigt wird. Aber der europäischen Idee läuft das diametral zuwider.

Ich habe in Reaktion darauf mit der Hanns-Seidel-Stiftung die Böhmerwald-Gespräche in Klattau (Klatovy) initiiert, um auf die Auswirkungen der Pandemie und der folgenden Maßnahmen auf die böhmisch-bayerische Grenzregion aufmerksam zu machen. Daran waren regionale Akteure vor Ort beteiligt wie Bürgermeister, Ärzte, Regionalpolitiker, Netzwerker. Mich hat besonders gefreut, dass sich konkrete Ideen und Anregungen aus diesem Format später in dem 12-Punkte-Plan für die bayerisch-böhmische Grenzregion wiedergefunden haben.

Abseits der hohen Politik hat die Pandemie aber auch unter Beweis gestellt, wie gut das deutsch-tschechische Verhältnis ist. Es ist erstmals öffentlich geworden, wie viele Menschen über die Grenze täglich zur Arbeit, zum Einkaufen pendeln, auf beiden Seiten Familie haben. Es gab und gibt auf der regionalen Ebene ganz konkrete Zeichen der gegenseitigen Solidarität. Viele dieser Initiativen wurden zudem vom Deutsch-Tschechischen Zukunftsfonds unterstützt, der die harten Auswirkungen der Pandemie auf die deutsch-tschechische Zusammenarbeit so wenigstens etwas abfedern konnte. Die deutsch-tschechische Partnerschaft ist also intakt.

LE Tschechien steht wie Deutschland dieses Jahr vor einer Parlamentswahl. Wird die Pandemie die Wahlen in Tschechien entscheidend beeinflussen?

Ganz sicher. Tschechien ist von der Pandemie wie kaum ein anderes Land betroffen. Das Management der Corona-Pandemie hat die Regierung geschwächt. Das werden die Menschen so schnell nicht vergessen und das wird eine Rolle bei den Wahlen spielen.

LE Wie schätzen Sie die Chancen ein, dass es ab Oktober in Tschechien zu einem Politikwechsel kommt und was würde das für das Land bedeuten?

Ich gehe fest davon aus, dass es zu einem Politikwechsel kommt, dass wir nach den Wahlen wieder eine normale Regierung im Sinne einer klassischen Koalitionsregierung haben werden. Dieses Land wird ja im Moment von einer Minderheitsregierung geführt, die von der Kommunistischen Partei toleriert wird. Die Bildung einer Koalitionsregierung wird also eine Rückkehr zur Normalität. Parteien werden wieder aufeinander zugehen und Kompromisse finden müssen. Das ist letztendlich gut für das Land.

LE Die Opposition steht in Umfragen derzeit gut da. Ihr hat sicher der Zusammenschluss zu zwei Blöcken geholfen. Trotzdem führt ANO trotz Versagen in der Corona-Politik weiter die Umfragen an. Droht nicht am Ende ein Patt, weil wieder niemand mit dem umstrittenen Premier Andrej Babiš koalieren will?

Ich glaube nicht, dass das droht. Wir haben breite Möglichkeiten von Parteien, die miteinander koalieren können, ohne dass wie bisher her, extremistische Parteien zum Zuge kommen. Man darf nicht vergessen, dass auch ANO eine liberale Partei mit vielen vernünftigen Politikern ist. Ich denke, dass dort das Bedürfnis nach einer Koalitionsregierung mit sicheren Mehrheiten inzwischen ausgeprägter ist als noch vor vier Jahren.

LE Sehen Sie die werteorientierte Politik, symbolisiert durch den konservativ-liberalen Oppositionsblock ODS, TOP09 und KDU-ČSL, im Aufwind?

Es ist auf jeden Fall eine gute Nachricht für die Parteiendemokratie, dass die klassischen Parteien immer noch oder wieder attraktiv sind. Im Fall von KDU-ČSL ist sogar eine Partei darunter, deren Geschichte bis in die erste Republik zurückgeht. Und auch TOP09 gehört bereits zu den etablierten Parteien. Bei der ODS war dagegen lange unklar, welche Politik überwiegt. Es gab ein Hin und Her im Verhältnis zur Europäischen Union, wo sich die ODS traditionell EU-skeptisch positioniert. Dominiert die eher gemäßigte Politik eines Fiala oder ist es die eher ablehnende eines Zahradil? Außerdem hatte sie ihre traditionelle Klientel, die der Kleinunternehmer verprellt. Hier wurde ein Kurswechsel vollzogen.

LE Ebenfalls sehr gute Chancen haben die Piraten, eine Partei, die in Deutschland längst wieder von der Bildfläche verschwunden ist. Wie erklären Sie sich diese Vorliebe für neue Gesichter und Bewegungen, die auch nach zahlreichen Enttäuschungen ungebrochen ist?

Die Piraten profitieren natürlich davon, unverbraucht zu sein. Gleichzeitig sprechen sie eine liberal geprägte eher jüngere Wählerschaft vorrangig in den Städten an, die in Tschechien derzeit kein Zuhause haben. Wir müssen berücksichtigen, dass es in Tschechien keine grüne Partei als wählbare Alternative gibt. Zumindest hat sie keine Chance, über die Fünf-Prozent-Hürde zu kommen. Das heißt nicht, dass die Piraten die neuen Grünen sind, aber sie haben ein ähnliches Wählerprofil.

LE Wie in der Pandemie und ihrer Bekämpfung zu sehen, ist das Vertrauen in die Politik in Tschechien sehr niedrig, was aber auch dazu führt, dass ein längerfristiges politisches Engagement nicht attraktiv ist. Wie ist Ihre Erfahrung aus der Arbeit für die Hanns-Seidel-Stiftung in Prag? Hat sich an diesem Befund in den letzten Jahren etwas geändert?

Ja und nein. Uns geht es natürlich vor allem um eine Stärkung der Parteienlandschaft, um das Grundvertrauen in demokratische Parteien, weil wir damit in Deutschland gute Erfahrungen gemacht haben und damit es eben nicht nur beim Aktivismus bleibt, der auf konkrete Einzelthemen beschränkt ist. Daran verzeichnen wir ein großes Interesse. Es gibt Themen, die von Jugendlichen selbst an uns herangetragen und hier ganz anders diskutiert werden als in Deutschland, wie zum Beispiel der Themenkomplex Energie. Aber auch die Vergangenheitsbewältigung. Da haben wir die Wendedaten ganz anders im Kopf als die junge Generation hier. Und für die ist das nicht kalter Kaffee, sondern Geschichte die sich in ihrem aktuellen Leben widerspiegelt, mit der sie sich auseinandersetzen wollen.

LE Sie wechseln innerhalb der Hanns-Seidel-Stiftung nach München. Bleiben Sie weiter mit Tschechien verbunden?

Meine berufliche Tätigkeit wird in Zukunft eine andere sein. Ähnlich wie im diplomatischen Dienst rotieren wir turnusgemäß in der Stiftung. Das ist also ein normaler Vorgang, mit dem mein Engagement in Tschechien aber nicht endet. Wie sagt man so schön: Man sieht sich immer zweimal im Leben. Zudem bleibe ich Bundesvorsitzender der Ackermann-Gemeinde und werde auch weiterhin den Vorsitz im Verwaltungsrat des Deutsch-Tschechischen Zukunftsfonds inne haben. Und nicht zuletzt sind wir ja familiär tief in Tschechien verwurzelt. An Tschechien führt für mich also auch in Zukunft kein Weg vorbei.


Martin Kastler (*1974) war von 2015 bis März dieses Jahres Repräsentant und Regionalleiter der CSU-nahen Hanns-Seidel-Stiftung in Tschechien, der Slowakei und Ungarn mit Sitz in Prag. Zuvor vertrat er seine mittelfränkische Heimat von 2003 bis 2004 und wieder von 2008 bis 2013 im Europäischen Parlament. 2004 bis 2008 wirkte er bereits als Referent der Hanns-Seidel-Stiftung in München, wohin er nun zurückkehrt. Zu seinen vielfältigen ehrenamtlichen Tätigkeiten zählen der Bundesvorsitz der Ackermann-Gemeinde und der Vorsitz des Verwaltungsrates des Deutsch-Tschechischen Zukunftsfonds. Er ist mit einer Tschechin verheiratet und hat drei Kinder.

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