Das Reichenberger Neißestadion fasst etwa 10 000 Zuschauer. Foto: FC Slovan Liberec/ www.fcslovanliberec.cz

In Reichenberg kann man Großstadt-Flair schnuppern. Für die Kängurus gibt es aber meist nicht viel zu holen.

In Reichenberg (Liberec) hat mein Opa seinen ersten Traktor gekauft. Noch Jahrzehnte später bekam mein Vater glänzende Augen, wenn das Gespräch auf Reichenberg kam. Das muss sich in den 30er Jahren zugetragen haben, mein Vater wurde 1930 geboren. Und auch vor München, denn vor dieser für einen mittleren Bauern aus Piesnig bei Böhmisch Leipa (Česká Lípa) bedeutenden Investition wurde ein Ausflug nach Zittau unternommen, zu den Preußen, wie in meiner väterlichen Familie alle Deutschen mit Pickelhaube hießen, völlig egal, ob es sich um Hessen, Sachsen oder echte Preußen handelte. Denn die Preise für den ins Auge gefassten Lanz-Bulldog waren eben ziemlich verschieden hüben und drüben. Dennoch gewann der Importeur in Reichenberg, irgendwelche Zölle sollen auch eine Rolle gespielt haben. In den Erzählungen der Familie ging es häufig um Reichenberg, immer als eine Art Mythos von der großen Stadt, ein Vorgeschmack auf Wien, wohin sich alle Sehnsüchte der Deutschböhmen richteten.

Das reiche Reichenberg

Um diese Zeit hatte Reichenberg etwa 70 000 Einwohner, zu 90 Prozent deutschsprachige ehemalige Österreicher, die sich als Deutschböhmen sahen. Fast ausschließlich Katholiken, fanden sie sich nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg als Minderheit in der neu gegründeten Tschechoslowakei wieder. Nicht nur diese Erste Republik, auch Reichenberg prosperierte in jenen Jahren, auch wenn die Weltwirtschaftskrise von 1929 manche Delle in die Exportgeschäfte der Reichenberger Unternehmer drückte. Denn Reichenberg hieß nicht nur so, es war auch reich. Schon im alten Österreich-Ungarn war der Bezirk Reichenberg nach Wien der steuerstärkste der Monarchie. Strukturbestimmende Branche Nordböhmens war damals die Textilindustrie. Insbesondere die Reichenberger Firma Liebig gelangte zu Weltruhm. Aber auch Teppiche von Ginzkay in Maffersdorf, dem heutigen Reichenberger Stadtteil Vratislavice, und Strümpfe von Kunert aus Warnsdorf (Varnsdorf) waren einst Weltmarken. Im New Yorker Edelhotel Waldorf-Astoria hängt heute noch ein riesiger Ginzkayteppich von der Decke. In Maffersdorf wurde 1875 ein gewisser Ferdinand Porsche geboren. Aber auch Konrad Henlein. Beide wurden berühmt, wenn auch aus ganz unterschiedlichen Gründen.

Tatsächlich hat Reichenberg großstädtische Züge. Kommt man am Hauptbahnhof an und geht bis zum Tuchplatz hinunter, kann man zwei großartige Hochhäuser besichtigen. Eines baute der mährische Schuhkönig Bata im Jahre 1932, das andere die Triestiner Versicherung Generali, heute nennt es sich Neißepalast, was die doch recht vertikale Ausrichtung etwas verschleiert. Auf jeden Fall architektonisch sehr gelungene Beispiele für den Willen zur Großstadt. Die nach 1990 gebauten Einkaufszentren sind dagegen leider ästhetische und auch funktionale Katastrophen. Sie stehen zur Hälfte leer und fügen sich schlecht in den kleinteiligen Charakter der Altstadt. Oben auf dem Altstädter Platz thront das Rathaus von 1893, eine nur leicht verkleinerte Kopie des Wiener Rathauses. Und gleich dahinter das Stadttheater von 1883, von Fellner & Helmer, einer Wiener Architekturfirma, die die ganze Monarchie mit Theater- und Opernhäusern versorgte. Unter dem Rathaus findet sich der sehenswerte Ratskeller, seit einigen Jahren neu eröffnet unter der Regie der Brauerei Svijany. Deren Bier gibt es hier naturgemäß aus dem Tank. Und auch die Küche bietet zuverlässig solide böhmische Küche, das Tartar und auch die Leber zählen zu meinen Lieblingsspeisen. Meistens geht man nach dem Essen zum Stadion, das in Reichenberg Neißestadion heißt. Fassungsvermögen etwa 10 000 Zuschauer, eine schöne in den Fels getriebene Haupttribüne mit Blick ins Tal. Die Gegengerade ist fast schon in den Fluss gebaut. Als der FC Slovan Liberec hier am 28. August 2002 den AC Mailand 2:1 besiegte, rieb sich ganz Europa die Augen. Aber niemand hatte sich verlesen, es war tatsächlich der bislang vermutlich größte Moment in der Geschichte des Reichenberger Rasens. Leider kam damals doch Mailand weiter, wenn auch nur durch die Auswärtstorregel.

Erstaunliche Erfolge

Fußballerisch blieb Reichenberg bis zur Abspaltung der Slowakei 1993 völlig unbedeutend. Der FC Slovan, 1958 nach diversen Umbenennungen und Fusionen entstanden, pendelte zwischen der 2. und 3. Liga der ČSSR. Erst 1993, als durch den Wegfall der slowakischen Mannschaften die tschechische Liga auf 16 Mannschaften aufgefüllt werden musste, kam man als Tabellenfünfter erstmals ins tschechische Oberhaus. Damals stiegen die sechs Erstplazierten aus der 2. Liga auf. Seitdem blieb Liberec erstklassig. Erste Erfolge stellten sich 2000 ein, der Pokalsieg bedeutete die erstmalige Teilnahme an europäischen Wettbewerben. Es folgten in den Jahren danach drei Meistertitel (2002, 2006, 2012). Der Europapokal wurde nicht nur häufig erreicht, sondern auch mit erstaunlichen Erfolgen absolviert. Zu den besiegten Gegnern gehören z. B. Olympique Lyon, Roter Stern Belgrad oder Udinese Calcio. Immer wieder gelang ein weites Vordringen in der Europa League, in der Saison 01/02 bis ins Viertelfinale, wo man sich erst dem 100 Mal reicheren BVB aus Dortmund geschlagen geben musste. Für uns Kängurus gab es im Norden leider meist wenig zu holen. Ein paar Unentschieden erinnere ich, aber meistens doch mehr oder minder böse Niederlagen. Aber das gute Bier des Ratskellers versöhnt mit Einigem. 

Der Autor ist Herausgeber des Leipziger Stadtmagazins Kreuzer

Werden Sie noch heute LandesECHO-Leser.

Mit einem Abo des LandesECHO sind Sie immer auf dem Laufenden, was sich in den deutsch-tschechischen Beziehungen tut - in Politik, Gesellschaft, Wirtschaft oder Kultur. Sie unterstützen eine unabhängige, nichtkommerzielle und meinungsfreudige Zeitschrift. Außerdem erfahren Sie mehr über die deutsche Minderheit, ihre Geschichte und ihr Leben in der Tschechischen Republik. Für weitere Informationen klicken Sie hier.