Der Name „Böhmen“ entstand nicht in Böhmen und ist auch nicht keltischen Ursprungs. Dies ist eines der überraschenden Ergebnisse der Forschung zur Periode um die Zeitenwende, die derzeit vom Prager Archäologischen Institut im Rahmen des Programms „Strategie AV21“ der Akademie der Wissenschaften der Tschechischen Republik durchgeführt wird.

 

Aus den meisten deutschsprachigen Lehrmaterialien, Wörterbüchern und Enzyklopädien erfährt man, dass sich die Bezeichnung „Böhmen“ von „Boiohaemum“ ableitet, was ‚Heimat des Keltenstammes der Boier‘ bedeutet. Gerade die Boier sollen dem Land also seinen Namen gegeben haben. Ähnliche Informationen erhält man aber auch in England, Frankreich oder der Türkei. Aus der ursprünglichen Bezeichnung „Boiohaemum“ entstand das lateinische „Bohemia“, welches beispielsweise das Englische und Spanische direkt übernahmen. Im Französischen wurde es zu „Bohême“, im Italienischen zu „Boemia“, im Finnischen zu „Böömi“ und im Türkischen zu „Bohemya“.

Obwohl slawische Sprachen mit „Čechy“, „Czechy“ oder „Чехия“ einen anderen Ausgangspunkt für ihre Benennung Tschechiens benutzen, erfahren auch Tschechen, Polen und Russen in ihren Lehrbüchern vom Stamm der Boier. Allgemein wird angenommen, dass die Geschichte vom keltischen und nachfolgend unslawischen Namen Böhmens eine historische Tatsache ist, während die slawische Benennung nach dem legendären Stammvater Čech in die Sagenwelt gehört.

Die römische Spur

Seit etwa zweihundert Jahren herrscht die Überzeugung, dass die Boier, einer der bedeutendsten keltischen Stämme, aus dem Gebiet des heutigen Tschechiens stammten. Linguisten sind jedoch anderer Ansicht und behaupten, dass das Wort „Boiohaemum“ germanischen und keineswegs keltischen Ursprungs ist. Es soll etwa wie „Bajjahaima“ geklungen haben. Wenn man dieser Behauptung folgt, hat dies einige Konsequenzen.

Kelten sollen in etwa zwischen den Jahren 400 bis 50 vor Christi Geburt auf dem Gebiet der heutigen Tschechischen Republik gelebt haben. Obwohl es Archäologen nicht gern hören, gibt es dafür jedoch keine eindeutigen schriftlichen Quellen, noch weniger darüber, ob gerade die Boier hier gesiedelt haben. All das wird nur von der Bezeichnung „Boiohaemum“ abgeleitet.

Hier gibt es jedoch das Problem, dass der Begriff „Boiohaemum“ zum ersten Mal beim römischen Schriftsteller Velleius Paterculus nach dem Jahr 6 nach Christi Geburt auftaucht. Zu dieser Zeit lebten in Böhmen jedoch keineswegs Kelten, sondern der germanische Stamm der Markomannen, angeführt von König Marobud. Der stellte für Rom einen starken Gegner dar, der besiegt werden musste. Während der Vorbereitungen für den entsprechenden Feldzug schrieb Velleius Paterculus, dass Marobud in einem Land lebt, das von Bergen umschlossen ist und „Boiohaemum“ heißt. Das bedeutet aber, dass die Bezeichnung zu einer Zeit verwendet wurde, als sie nicht mehr mit der Realität übereinstimmte, da damals bereits seit einigen Generationen Germanen in Böhmen lebten.

Ein germanischer Name

Das ursprünglich germanische Wort „Bajjahaima“ setzt sich aus zwei Teilen zusammen: „Bajja“ bezeichnet einen Boier, „haima“ ist gleichbedeutend mit dem altgermanischen „Haim“. „Haim“ wiederum bezeichnete vor der Zeitenwende jedoch vor allem „Siedlung“, „Wohnsitz“ oder „Land“, aber nicht „Heimat“. Diese neue Bedeutung erhielt es erst viele Jahrhunderte später. „Bajjahaima“ heißt also nicht „Heimat der Boier“, sondern eher „Land der Boier“, oder „Dort, wo Boier leben“. Über die Urheimat der Boier, deren Ursprungsort also, sagen die Worte „Bajjahaima“ und die latinisierte Version „Boiohaemum“ nichts aus.

Übrigens ist es gar nicht sicher, dass „Bajjahaima“ vor unserer Zeitrechnung überhaupt unser heutiges Böhmen bezeichnete. Man weiß nicht, wann und wo dieses Wort entstand. Offenbar schufen es Germanen, die in der Nachbarschaft der keltischen Boier lebten, irgendwann vor dem Jahr 50 vor Christi Geburt. Sollte es dazu im ersten Jahrhundert vor Christi Geburt gekommen sein, könnte es sich wahrscheinlich auf das aktuelle Böhmen beziehen, höchstwahrscheinlich auf dessen nördlichen Teil, der an germanisches Gebiet grenzte.

Sollte der Name aber früher entstanden sein, bereits im vierten oder dritten Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung, muss es sich nicht unbedingt um das Gebiet des heutigen Böhmens gehandelt haben. Man weiß schlicht nicht, wo die Boier damals lebten. Ihr Siedlungsgebiet kann irgendwo zwischen Thüringen und Schlesien gelegen haben.

Die Legende der Urheimat

Der Begriff „Bajjahaima“ kann in den Jahrhunderten vor unserer Zeitrechnung beispielsweise ebenso gut allein das nordböhmische Vorerzgebirge bezeichnet haben, wie auch die gesamte Region zwischen dem Mittelmain und dem Oberlauf der Oder. Es ist außerdem nicht gesichert, dass stets dieselbe Region so genannt wurde. Das „Land der Boier“ kann auch mit den Boiern mitgewandert sein. Zu den häufigen Wanderungen der Boier gibt es nämlich tatsächlich schriftliche Quellen. „Bajjahaima“ hat dementsprechend wohl zu verschiedenen Zeiten verschiedene Landschaften verschiedener Ausdehnung bezeichnet.

Bei den Namen „Bajjahaima“, „Bohemia“ und „Böhmen“ gibt es noch viel Unklares und Unbekanntes. Sicher ist nur, dass diese Bezeichnung nicht von den keltischen Boiern stammt, sondern ihr Gebiet von Mitgliedern eines unbekannten germanischen Stammes so genannt wurde. Die Form „Boiohaemum“ nutzten die Römer erst zu Beginn unserer Zeitrechnung und bezeichneten damit das Land, in dem der markomannische König Marobud lebte. Wie die Kelten selbst zuvor dieses Gebiet nannten, weiß man nicht.

Velleius Paterculus nutzte das Wort „Boiohaemum“ irgendwann zwischen den Jahren 6 und 31 nach Christi Geburt. Man kann also ein ungefähres 2000-jähriges Jubiläum seit der ersten belegten Nutzung des Begriffs feiern. Die Ansicht jedoch, dass „Boiohaemum“ die Urheimat der Boier bezeichnet, gehört ebenso in das Reich der Legenden wie die Sage über Stammvater Čech.

 

 

Der Autor ist leitender wissenschaftlicher Mitarbeiter des Archäologischen Instituts der Akademie der Wissenschaften der Tschechischen Republik in Prag.

Dieser Artikel erschien zuerst im LandesEcho 4/2018.

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