Wir in Mitteleuropa, dem Teil des Kontinents, der es niemals zu Überseekolonien brachte, haben Großbritannien immer bewundert. Aber schon vor 100 Jahren war diese Liebe eine einseitige…

Wir Tschechoslowaken, aber auch die Polen, hatten zwischen den Weltkriegen Verträge mit Großbritannien abgeschlossen und schätzten London als Garanten unserer Unabhängigkeit im Hintergrund, während wir dem Deutschen Reich gegenüberstanden.

Uns Tschechoslowaken aber hat Großbritannien gleich zweimal verraten: einmal in München im September 1938, zum zweiten Mal im März des folgenden Jahres, als die Garantien der Grenzen der zweiten Republik seit München durch die Unterzeichner des Münchner Vertrags zu Papierfetzen und nichtigem Schutz gegen die Okkupation der Nazis verkam. Polen erging es damals kaum besser, obwohl Großbritannien nach dem Überfall auf Polen durch Hitlers Drittes Reich in den Krieg eintrat. Denn in jenen Wochen, da sich die Polen verzweifelt gegen die Übermacht der Wehrmacht zu verteidigen suchten, hatten die Briten (und Franzosen) nicht einen Schuss abgegeben. Und dennoch siedelten sich die polnische und auch die tschechoslowakische Exilregierung gerade in London an. Polnische und tschechische Piloten trugen zum Erfolg Großbritanniens im Luftkrieg um England bei. Tschechen starben gemeinsam mit den Briten bei Tobruk, Polen bei Monte Cassina.

Doch dann kam Jalta. Und Winston Churchill tauschte das Schicksal Mitteleuropas für die britischen Interessen in Griechenland und auf dem Balkan ein. Großbritannien war damals zu schwach und die Offensive der Westalliierten zu langsam, um Mitteleuropa vor der Besetzung durch die Rote Armee retten zu können, die die Befreiung von den Nazis zu einer neuen, sowjetischen Okkupation machte. Im Falle Polens und Ungarns ab dem Jahr 1945, in der Tschechoslowakei ab August 1968.

Unser Verbündeter in der EU

Unsere Zuneigung zu den Briten aber konnte auch dies nicht trüben, sie wuchs vielmehr noch mit unserem Beitritt zur Europäischen Union.  In den Briten sahen wir einen klaren, abstrakten Zugang zum deutsch-französischen „Motor“ der EU. Uns faszinierten die unterschiedlichen Vorteile und Ausnahmen, die sich die Briten zu erstreiten schafften. Und der Widerstand gegen die soziale Marktwirtschaft des kontinentalen Europas, über die wir uns von Leuten wie Václav Klaus a Leszek Balcerowicz einreden ließen, sie sei nicht der richtige Weg für unser wirtschaftliches Wachstum. Ergebnis dieses Abguckens bei den Briten und der liberalen Wirtschaft ist die Tatsache, dass unsere Wirtschaft bereits 90 Prozent der Arbeitsleistung des EU-Durchschnitts vorweisen kann, unsere Löhne jedoch noch immer bei einem Drittel oder maximal Viertel liegen.

Großbritannien war uns um das Jahr 2010 herum wieder wichtigster politischer Verbündeter. Vor allem die Regierung liberal-konservativen Demokratischen Bürgerpartei ODS in Tschechien und der rechtspopulistischen Partei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS) in Polen rühmten sich damit, die gemeinsamen Fotos des damaligen tschechischen Premiers Petr Nečas mit seinem britischen Amtskollegen David Cameron auf dem Weg zum EU-Summit wurden zum Aushängeschild der tschechischen Außenpolitik. Im Europaparlament dann sammelten sich ODS, PiS und die britischen Tories in einer gemeinsamen euroskeptischen Fraktion.

Liebe bis zum Brexit

Doch dann geschah etwas, womit wir niemals gerechnet hätten. Großbritannien stimmt in einem absurd ausgeschriebenen Referendum, ausgeschrieben von jenem Nečas-Freund Cameron, für den Austritt aus der EU. Der ausschlaggebende Grund war, dass die Briten keine weiteren Migranten aus Polen, Tschechen, Ungarn, der Slowakei und Litauen wollten, jene mittelosteuropäische Zuwanderung, die den Briten viel mehr Sorgen bereitete als die „ihrer“ Inder und Pakistani.

Und nun steuert Europa nach zwei Jahren chaotischer Verhandlungen zwischen Brüssel und London auf einen harten Brexit zu, das heißt jene Variante, die den fast zwei Millionen Mitteleuropäern auf der Insel und rund 200.000 Firmenangestellten in unserem Teil Europas Albträume beschert. Denn für sie stellt der drohende Handelskollaps mit den Briten eine Gefährdung ihrer Existenz dar.

Alles dreht sich um das Rätsel der sogenannten durchlässigen Grenze zwischen der Republik Irland und dem britischen Nordirland. Auffallend dabei ist, dass der einzige EU-Staat, der London zu Hilfe eilte, Jaroslaw Kaczynskis Polen war, das einen Vorschlag präsentierte, der eine zeitliche Befristung des sogenannten Backstops vorsah und damit Irland in den Rücken fiel. Ja, genau, das Land, wegen wessen Bürgern Großbritannien vor allem aus der EU austreten will.

Inspiration im Schlechten statt Guten

Der Traum von Großbritannien als Land, dem wir ähneln wollen, von dem wir Mitteleuropäer uns inspirieren lassen wollen und auf das wir uns, wenn schon nicht in der EU, so doch wenigstens in der Nato, verlassen wollen, erscheint wie die sprichwörtliche Katze mit ihren sieben Leben.

Wenn wir uns wenigstens inspirieren lassen würden von dem, was in Großbritannien wirklich gut ist. Von der offenen, multikulturellen Gesellschaft, wo ein Moslem mit pakistanischen Eltern Bürgermeister Londons werden konnte. Von dem absolut demokratischen Regierungssystem und unantastbaren, öffentlichen Medien. Aber wir suchen uns in Großbritannien das Allerschlechteste heraus: den sich verhärtenden Widerstand gegen eine vollständige EU-Mitgliedschaft, das Misstrauen gegenüber Deutschland, das in vielerlei Hinsicht härtere Sozialsystem.

Und jetzt auch noch den Brexit und den Austritt aus der EU als solchen.

Es ist an der Zeit sich einzugestehen, dass eine solche Liebe zu Großbritannien nur falsch und für uns in Mitteleuropa besonders zerstörerisch sein kann. So wie es die Liebe, so sie nicht erwidert wird, eben manchmal sein kann.

LUBOŠ PALATA ist Europa-Redakteur der tschechischen Tageszeitung Deník.


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